1. Symphonie "Versuch eines Requiems"
Karl Amadeus Hartmann schrieb seine erste Symphonie in den Jahren 1935/36. Zu diesem Zeitpunkt war er ein unbekannter Musiker, dessen Werk auf keine Aufführung und auf keine Förderung in seiner Heimat hoffen konnte. Er hat über zehn Jahre lang auf die erste Aufführung warten müssen; sie fand im Frühjahr 1948 unter der Leitung von Winfrid Zillig in Frankfurt statt. Ich war damals 21 Jahre alt, und der Eindruck, den mir dieses Werk machte, war außerordentlich groß. Von damals her rührt meine Bewunderung für die Musik Hartmanns, deren besondere Geistigkeit, nämlich ihre spontane, ungebrochene Direktheit, ihre Ehrlichkeit und Gradlinigkeit – Dinge, die in diesem Künstler auch über das Werk hinaus auf seine Umwelt, auf seine Mitmenschen ausstrahlen –, mir wichtig und bedeutend erschienen. Außerdem gibt es in allen Werken von Hartmann eine wesentliche Erscheinungsform der Kompositionskunst, nämlich eine genaue Entsprechung des Ausdrucksbedürfnisses und seiner Dringlichkeit mit der Wahl der instrumentalen Mittel. Dem oberflächlichen Zuhörer mag es im ersten Augenblick vielleicht entgehen, daß der gewaltige Orchesterapparat, den Hartmann beschwört, genau dem starken Grad seiner Expression, genau der Farbigkeit seiner Rede entspricht. Hinzu tritt die Weite und die geladene Vitalität des Süddeutschen, der seine Innerlichkeit mit dem schönen Moment und dem hymnisch Gewaltigen sinnlich zu verbinden vermag, gemäß seiner Landschaft, gemäß einem vom unerschütterlichen Glauben an die Menschheit getragenen Kommunikationsbedürfnis.
Hans Werner Henze
(Hartmann: Kleine Schriften · Schott Mainz, 1965 · ED 5208)
Text nach Worten von Walt Withman
Introduktion: Elend
Ich sitze und schaue aus auf alle Plagen der Welt
Und auf alle Bedrängnis und Schmach –
Ich sehe die Mühsal der Schlacht, Pestilenz, Tyrannei,
sehe Märtyrer und Gefangene –
ich beobachte die Geringschätzung und Erniedrigung,
die die Armen von Hochmütigen zu erleiden haben;
auf alle Gemeinheit und Qual ohne Ende, schaue ich sitzend hin,
sehe und höre. –
Frühling
Als jüngst der Flieder blühte vor der Tür,
und der Stern am Himmel früh in die Nacht sank,
trauerte ich, und werde trauern mit jedem Frühling neu. –
So oft du, Frühling, ach Frühling, wiederkehrst.
Freiheit – immer wirst uns bringen:
Flieder blühend jedes Jahr, Elend ach, gibst du uns all’. –
Und Gedanken an den Tod, der uns nah’. –
Tränen
Tränen, Tränen, Tränen!
In der Nacht, in der Einsamkeit,
tropfend herab auf den weißen Strand,
eingesogen vom Sand –
nirgends, nirgends ein Stern, ein Stern!
Alles, alles öde und schwarz, -
Nasse Tränen aus eines vermummten Hauptes Augen;
O wer ist dieser Geist?
Diese Gestalt im Dunkeln, voll Tränen, voll Tränen?
Was für ein formloser Klumpen
Gebeugt, gekrümmt, dort auf dem Sand? –
Schluchzende Tränen,
wilde Schreie vom Jammer geschüttelt?
O Schatten, o Schatten,
so ruhig und würdig bei Tage,
mit gelassenem Angesicht und gemessenem Schritt.
Aber nun, da du hin fliehst in Nacht,
wenn keiner dich sieht,
o schmelzender Ozean von Tränen!
Tränen, Tränen!
Epilog: Bitte
Ich hörte die Allmutter,
als sie gedankenvoll auf all ihre Toten schaute,
verzweifelt, auf all die verzerrten Leiber,
all die im Elend zugrunde gegangenen Menschen,
als ihrer Erde sie zurief mit klagender Stimme,
indes sie da hinschritt:
Ach nimm sie wohl auf, o meine Erde,
ich trage dir auf, meine Söhne, meine Schwestern nicht zu verlieren,
und ihr Ströme, nehmt sie wohl auf,
nehmt auf, nehmt auf ihr teures Blut,
und ihr Stätten hier und dort und Lüfte,
die ihr droben unfühlbar schwimmt,
und all ihr Säfte vom Erdreich und Wachstum!
O meine Toten!
Hauche sie aus, ewiger süßer Tod, nach Jahren, Jahrhunderten.