König Hirsch (Aus dem Herzen des zauberischen Landes)
»Ich hoffe immer noch, dass eines Tages mein Traum von einer Aufführung des Re Cervo, so wie ich ihn mir vorstelle,Wirklichkeit wird. Vielleicht zu meinem 80. Geburtstag.« – Ganz so lange, wie er es in seinem Brief an Jean-Pierre Ponnelle 1965 befürchtet hatte, musste Hans Werner Henze nicht warten, um seine 1955 fertiggestellte Oper König Hirsch so auf der Bühne zu erleben, wie es seinen Vorstellungen entsprach. Immerhin sollten jedoch 30 Jahre vergehen, bevor Dennis Russell Davies 1985 die gut vierstündige Urfassung des Stücks in Stuttgart fast ungekürzt aufführte und der Oper damit zu einem triumphalen Erfolg verhalf. Der war ihr bei der ersten Aufführung 1956 in Berlin verwehrt geblieben. Damals war sie derart drastisch gekürzt worden, dass sich Henze in letzter Minute vergeblich darum bemühte, ein Aufführungsverbot des Torsos durch den Schott-Verlag zu erwirken. Noch in seiner Autobiographie entrüstete sich der Komponist über das Vorgehen des Dirigenten Hermann Scherchen,der ohne Verständnis für das Werk »mit dem Rotstift« in der Partitur wütete. Dieses rigorose Vorgehen Scherchens hatte in den Jahren danach eine Vielzahl weiterer Kurzfassungen zur Folge, da nach dem Desaster der Uraufführung kaum jemand an die Aufführbarkeit des ganzen Stücks glaubte. Sogar Henze war vom Schicksal seines König Hirsch so entmutigt, dass er 1963 selbst eine neue Version der Oper als autorisierte Kurzfassung erstellte.
Warum war es in den 1950er und 60er Jahren so schwierig, die Urfassung des Stücks auf der Bühne zu realisieren? Scherchen soll laut Henze seine Kürzungen,die der Substanz der Oper zu Leibe rückten,mit den Worten verteidigt haben: »Aber mein Lieber, wir schreiben doch heute keine Arien mehr.« Bemerkenswert an dieser Begründung war – abgesehen von der Kritik der angeblichen Rückständigkeit – die Formulierung »wir«. Dieses »wir« bezog sich auf die zu jener Zeit tonangebende Avantgarde und ihre Wertmaßstäbe und markierte sehr treffend Henzes Position als Künstler im Nachkriegsdeutschland.Dieser fühlte sich in der Szene der Neuen Musik zunehmend als Außenseiter. Zwar hatte er sich zunächst mit den strengen
Kompositionskriterien, die bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt propagiert wurden, ernsthaft befasst. Er empfand sie jedoch im Verlauf der 1950er Jahre immer stärker als dogmatisch und beengend und sein Bedürfnis, sich davon zu distanzieren, wurde immer stärker. In diesem Sinne bedeutet die Oper König Hirsch einen Wendepunkt in der künstlerischen
Entwicklung Henzes.
Das Werk entstand in Italien, wohin der Komponist im Jahr 1953 auch aufgrund seiner immer deutlicher zu Tage tretenden künstlerischen Isolation ausgewandert war. Italien faszinierte ihn und das mediterrane Lebensgefühl verschaffte ihm das seelische Gleichgewicht, das er zum Komponieren benötigte. Gewiss hatte es ihm auch die Urmusikalität der Italiener angetan, die sich in der sinnlich betörenden Kantabilität des Volkslieds sowie der Oper entfaltete.Besonders der neapolitanische Volksgesang interessierte ihn. Er entdeckte darin Elemente der nordafrikanischen Folklore und studiertederen melodische und rhythmische Struktur. All das schlug sich auch bei
der Entstehung des König Hirsch nieder, zusammen mit dem Wunsch eine
Oper zu schreiben, die wie die italienische eine natürliche gesteigerte
Fortsetzung des Gesangs der Menschen auf der Straße darstellen sollte.
Den Stoff dazu lieferte die Tragikomödie Il re cervo von Carlo Gozzi, die der
Dichter Heinz von Cramer zu einem Libretto umgestaltete. In einer klassischen
Dreierkonstellation mit vielen schillernden Nebenfiguren geht es um
das Schicksal eines Königs, der mit den Tieren im Wald aufwuchs und nun
den Herrscher in der Welt der Menschen verkörpern soll. Die Natürlichkeit
und Naivität des Königs aber auch das Ränkespiel des selbstherrlichen
Statthalters erschweren ihm die Identifikation mit seinem Amt. Nur die
Liebe zu einem Mädchen veranlasst ihn schließlich, den geliebten Wald zu
verlassen und sich auf seine Bestimmung als König einzulassen.
Die durch indisches Märchengut inspirierte Geschichte voller Phantastik
und Rätselhaftigkeit gefiel Henze, zumal sie »ein vergangenes, barockes
Italien« imaginierte und somit der Italienbegeisterung des Komponisten
entgegenkam. Der Reiz des Fremdartigen machte es ihm leicht, sich von den
Dogmen und Techniken der zeitgenössischen Avantgarde zu lösen und unterstützte
ihn in seinem Gefühl, ganz ohne Altlasten arbeiten zu können.
Musikalisch äußert sich das im deutlichen Einfluss der süditalienischen
Folklore mit ihren arabisch anmutenden Wendungen und ihrer reichen
Melismatik. Das südländische Kolorit verstärkte Henze noch durch die
opulent strömende Klangsinnlichkeit des Orchesterparts. Formal stellte er
das klar gegliederte,durchkomponierte Stück allerdings ganz in die deutsche
spätromantische Tradition von Richard Strauss und Alban Berg,was manche
Kommentatoren dazu veranlasste, das italienische Gepräge der Oper als
bloße Staffage abzutun.
Die besondere Verbindung von südlichem Melos und nördlichem Formwillen
charakterisiert auch das Liebesduett gegen Ende des 1. Aktes. Darin
drückt sich die aufkeimende Liebe zwischen dem König und dem Mädchen
aus, das zunächst gegen seinen Willen zur Brautschau gezwungen wurde.
Die Stimmen des Königs und des Mädchens intonieren zu Anfang unisono
ein sehnsüchtig gedehntes, melodiöses und durch orientalisch anmutende
Verzierungen geschmücktes Thema,das sie im Verlauf der Szene mal gemeinsam,
mal solistisch in verschiedenen Abwandlungen präsentieren. So ergibt
sich formal eine Folge von sieben Abschnitten: Dem Liebesthema folgen fünf
sich steigernde Variationen, die in einer Coda gipfeln, worin das Paar sich
seine Liebe gesteht. Der Text des Duetts offenbart sich als ein kryptisches
Zwiegespräch, das einerseits auf andere Stellen des Librettos Bezug nimmt,
andererseits dem phantastischen Charakter des Stücks entspricht. Wie öfter
im Verlauf der ganzen Oper stellt sich zuweilen auch hier eine surreale
Stimmung ein. Besonders die Worte des Königs »erst wenn wir träumen,
werden wir wach« enthüllen den deutlichen Hang zum Surrealismus. Die
Allmacht des Traums und seine höhere Wirklichkeit als ein Prinzip des
Surrealismus hat in von Cramers Libretto deutliche Spuren hinterlassen und
Henze zu suggestivem,oft entrückt wirkendem Klangzauber inspiriert,ohne
freilich die zerstörerische Konsequenz zu entfalten, die diese Kunstrichtung
in sich barg. So sind Traum und Assoziation in König Hirsch nur ein
Ausdruck geheimnisvoller Übersinnlichkeit. Anders als beispielsweise in
Bohuslav Martinuº s knapp 20 Jahre älterer Oper Julietta, führt die Liebe zu
einem Mädchen nicht in einen wahnhaften Traumzustand, aus dem kein
Weg in die reale Welt zurück führt. Im Gegenteil: Der König findet gerade
durch die Erinnerung an seine Liebe zum Bewusstsein der Realität zurück.
Die Motivation des Königs, der sich vor den Intrigen des Statthalters in den
Wald – ein Sinnbild des Unbewussten – geflüchtet hatte, schließlich in die
Stadt zurückzukehren und seines Amtes zu walten, wird musikalisch deutlich
gemacht. In der Finalszene des 2.Aktes zitieren zwei Oboen eine Passage
aus dem Liebesduett und geben so den entscheidenden Impuls für den Entschluss
des Königs zu seiner Rückkehr. Umgekehrt klingt das Thema des
Liebesduetts auch schon früher, in der Arie des Königs an.Dort charakterisiert
es seine noch unbestimmte Sehnsucht und Suche nach dem Gefühl der
Zugehörigkeit,das sich später in der Liebe zu dem Mädchen erfüllt.
So betrachtet kommt dem Liebesduett des 1. Aktes eine Schlüsselrolle zu, da
besonders seine musikalische Anlage für das Verständnis des ganzen Werks
wesentlich ist. Es überrascht daher nicht, dass diese Szene Henzes Arbeit an
der Oper einleitete: »Die ersten Noten für den 1. Akt des König Hirsch waren
die zum Duett zwischen dem Mädchen und dem jungen König: ›Was können
wir tun? Die Luft war voll von geöffneten Käfigen. Unsre Blicke wurden
Vögel und flogen davon.‹ Einstimmig waren sie, diatonisch, und es war mir,
als kämen die Noten wirklich aus dem Herzen des zauberischen Landes, das
mich umfing«. In seiner Autobiographie beschreibt Henze die Komposition
des Liebesduetts als einen Akt der Initiation: Seine selbsterwählte neue
Heimat Italien öffnete sich ihm nun auch auf musikalischer Ebene.Ähnlich
wie sein Titelheld im Liebesduett des 1. Aktes stand auch der Komponist zu
dem Zeitpunkt als er es schrieb am Anfang eines Identifikationsprozesses.
So wie die Liebe zu einem Mädchen dem König Kraft verlieh,sich in der Welt
der Intrigen als Herrscher behaupten zu lernen, so schöpfte auch Henze aus
der Landschaft und Kultur seiner Wahlheimat Italien die ersehnte Inspiration,
die ihm jenseits aller Dogmen und Konventionen die Freiheit künstlerischer
Entfaltung ermöglichte. Sie vollzog sich in einer ganz persönlich
geprägten Synthese von Tradition und Moderne, die den musikalischen Stil
Hans Werner Henzes ausmacht. Dieser Wandlungsprozess in Henzes Schaffen äußert sich nicht nur in der Musik des König Hirsch, sondern wird auch
durch das Schicksal des Titelhelden versinnbildlicht. Das Liebesduett des
1. Aktes wirkt wie ein Konzentrat dieser metaphorischen Bedeutung des
Stücks,weil es für den Titelhelden sowie für den Komponisten einen ersten
kleinen Sieg in ihrem Kampf um freie Selbstentfaltung darstellt.
Programmheft musica viva (11. Mai 2006)