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You Are


Blieb der Widerhall hebräischer Gesänge in Eight Lines ganz dem Abstrakten und Verborgenen verhaftet, so tritt die semantische Ebene in You Are offen zutage – worin sich eine Entwicklung abzeichnet, die für Reichs Schaffen insgesamt wesentlich war. Er überschrieb die vier Sätze von You Are mit aphoristischen Sentenzen, die an existenzielle Fragestellungen appellieren und zudem als Gesangstexte fungieren. Nun gemahnen auch Werke wie Drumming oder Music for 18 Musicians durch ihre Trance-Energie zumindest an untergründige Spiritualität, dennoch eröffnen die Aspekte von außermusikalischer Sinnaufladung und geistlich-philosophischer Überhöhung neue Dimensionen, zumal gerade die Einbeziehung hebräischer Quellen [etwa aus dem Talmud] vom biografischen Hintergrund des Komponisten, der jüdischer Herkunft ist, abgeleitet werden kann. Indes, von herkömmlicher Textvertonung, geschweige denn von pathetischer Deklamation, ist Reich weit entfernt. Ja, er wäre eben nicht Reich, wenn die gesungenen Worte nicht homogen im Klanggewebe aufgehen würden, indem sie in prozesshafter Wechselwirkung mit den Instrumentalfarben darin auftauchen oder versinken.

Für den ersten Satz von You Are wählte Reich ein Zitat aus der im späten 18. Jahrhundert verfassten Schrift Likutey Moharan des jüdischen Mystikers Rabbi Nachman, dem er auch den Titel entnahm: »You are wherever your thoughts are«. Wie stark diese Worte Einfluss auf die Musik genommen haben, ist allein daran zu ermessen, dass dieser Teil der Komposition mit ungewöhnlicher harmonischer Vielfalt aufwartet und die einzelnen Variationen auf sehr verschiedenen und gegensätzlichen Anregungen beruhen – ganz so, wie es die Worte »Du bist überall dort, wo deine Gedanken sind« nahe legen. In die dritte Variation floss etwa das aus dem 14.Jahrhundert stammende Lied L’homme armé ein, in der fünften stehen die vier Klaviere im Zentrum, die mit widerstreitenden Harmonien harsche Konflikte austragen, während in der achten Variation Anklänge an die Musik des Funk- und Soul-Sängers James Brown zu erahnen sind. Dass die heterogenen Inspirationsfelder sich dennoch zur untrennbaren Einheit formieren, kann freilich ebenso auf das »Motto« des Satzes zurückgeführt werden, ist es doch immer derselbe Mensch, der sich in die unterschiedlichsten Stimmungen und [geistigen] Regionen vortastet.

Dem zweiten Satz, der mit dem ersten kontrastiert, liegt – im hebräischen Original [»Shiviti Hashem l’negdi«] – eine Zeile aus Psalm 16 zugrunde. Die Harmonik basiert lediglich auf vier Akkorden, die Reich als Versinnbildlichung des Tetragramms JHWH, das den hebräischen Eigennamen Gottes darstellt, verstanden wissen will. Nicht nur der Vokalpart, sondern der ganze Satz ist als Kanon angelegt, der sich auf der Folie ständig wechselnder Metren und nach dem Prinzip der Augmentation in gemessener Bewegung entfaltet.

Vollends in die Sphäre von Meditation und Kontemplation dringt der durch eine kurze Pause abgesetzte dritte Satz ein, in dem Reich über das Zitat »Erklärungen kommen irgendwo an ein Ende« des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein reflektierte – was sich in subtiler Reduktion des Klangmaterials widerspiegelt. Gewissermaßen als Essenz seiner klingenden Betrachtungen zog der Komponist für das Finale einen Sinnspruch aus dem Talmud heran: »Ehmor m’aht,v’ahsay harbay« [»Sage wenig und tue viel«]. Zugleich spannte er musikalisch den Bogen zu den vorangegangenen Sätzen, indem er zum Anfangstempo zurückkehrte und auf die kanonische Disposition des zweiten Satzes zurückgriff. So wie die einzelnen Sätze von You Are aus »Variationen« gebildet sind, so stellt jeder Satz für sich selbst die »Variation« eines [imaginären] Grundgedankens dar.Und dies korrespondiert wiederum mit der semantischen Ebene des groß besetzten und ausgedehnten Werks [mit einer Spieldauer von gut 25 Minuten]; schließlich lassen sich alle vier textlichen Botschaften aufeinander beziehen – wobei die [ver]geistig[t]e Ebene in einer ungemein körperlich-sinnlich anspringenden Musik aufgehoben ist.