Consolation II
UA Basel, 15. Juni 1969
CD
Schola Cantorum Stuttgart, Ltg. Clytus Gottwald
CD Cadenza 800 893
Klangforum Wien, Ltg. Hans Zender, Schola Heidelberg, ensemble aisthesis, Ltg. Walter Nußbaum
CD KAIROS 0012202KAI
Consolation II für 16 Stimmen stellt einen Teil beziehungsweise eine Schicht eines ursprünglich vierteilig geplanten Zyklus für Chor und Schlagzeug dar. Jeder der darin vereinigten Texte repräsentiert unter anderem Blickwinkel eine Erkenntnis, die über die eigenen existentiellen Grenzen hinweghelfen möchte. Der hier zugrunde liegende Text - eine neuhochdeutsche Fassung des "Wessobrunner Gebets" - lautet:
Mir gestand der Sterblichen Staunen als Höchstes
Dass Erde nicht war noch oben Himmel
Noch Baum, noch irgend ein Berg nicht wary
Noch die Sonne, nicht Licht war
Noch der Mond nicht leuchtete noch das gewaltige Meer
Da noch nirgends nichts war an Enden und Wenden
Da war der eine allmächtige Gott.
In Consolation II ist der Text nicht mehr verstehbar. Solche "Unverständlichkeit" scheint mir legitim und dort kaum vermeidlich, wo Musik und musikalische Form ihre alten sprach-analogen Gesetzmäßigkeiten mit anderen vertauscht haben, mit Gesetzmäßigkeiten nämlich, welche sich gegen die oberflächliche Koppelung mit einem semantisch orientierten und grammatikalisch gerichteten Sprachverlauf sperren. Einen Text übers Vertonen hinaus "komponieren" - das muß heißen: in die durch ihn gesetzte Ordnung eingreifen und auf sie reagieren. Dabei geht Consolation II - wie früher auch Consolation I - von einer Textbehandlung aus, in welcher dank der charakteristischen Ökonomie des phonetischen Materials auch trotz völliger Isolierung, Verfremdung und Umstellung der Textpartikel die semantische Bedeutung doch noch quasi "von fern" signalisiert bleibt. Indem die phonetischen Elemente innerhalb der damit gebildeten Strukturen nicht bloß Mittel, sondern selbst Objekt des musikalischen Ausdrucks werden, stellen sich Text und Werk selbst als ein Teil jener Materie dar, von deren Zeitlichkeit hier die Rede ist.
Ein geistliches Werk? Vielleicht, aber nicht von Schuld und Erlösung ist die Rede, sondern von jener Erfahrung, die jeglichem Denken zugrunde liegt: der Sterblichen Staunen.
(Helmut Lachenmann, 1969)