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Natura Renovatur - Die Ästhetik des Unkomponierbaren


Wenn die Streicher ihre Instrumente stimmen, so hat dies eine ganz eigentümliche Wirkung auf uns Zuhörer. Erscheint uns dieses Tongewirr nicht ganz natürlich und vertraut? Wir lesen davon und hören es sofort, dieses Gleiten, Schwirren, Suchen. Töne nähern sich einander an — aber wann sie sich in Einklang befinden werden, das hängt vom Stimmenden ab und nicht von einem Komponisten oder Dirigenten. Nicht nur die Instrumente werden da gestimmt, sondern wir werden eingestimmt. Wir entspannen uns. Das Stimmen ist ein Versprechen, dass alles gut wird. Und zwar bald. Und was wir da gerade aus dem Orchestergraben hervorkommen hören. wird im eigentlichen Stück wohl nichts verloren haben. Außer es werden späte Werke des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi zur Aufführung gebracht. Was jetzt nicht heißen soll, dass Scelsis Musik sich anhört, als würden die Streicher ihre Instrumente stimmen. Mir erging es beim Hören von „Natura Renovatur“ (ECM New Series) nur so, dass mir Scelsis Musik plötzlich so anders erschien, nicht im eigentlichen Sinn komponiert. Mir ging durch den Sinn, dass in dieser Musik Gesetzmäßigkeiten und Strukturen vielleicht nur untergeordnete Rollen spielen. Und mich erinnerten die mikrotonalen Vorgänge während Scelsis langsam, ganz langsam vor sich gehenden Glissandi an jene schönen, so ziellosen und hochgestimmten Augenblicke, bevor ein Werk aufgeführt wird. Wenn alle entspannt sind und doch hochkonzentriert.

Der Kampf um den Nachlass

Und der Begriff des Anders-Seins scheint mir für „Natura Renovatur“ durchaus zu gelten. Zwischen 1961 und 1970, als diese Musik entstand, verwendete Scelsi daheim aufgenommene Improvisationen auf dem Ondiola als Basis für seine Kompositionen. Das Ondiola war die italienische Abart früher elektronischer Tasteninstrumente wie dem Klaviola oder der Ondioline und erlaubte Scelsi, mikrotonale Intervalle, Glissandi und kleinste Veränderungen in der Klangfarbe zu erkunden. Als Scelsi 1988 starb, fand man in seiner kleinen Wohnung am Forum Romanum, in der er vier Jahrzehnte gelebt hat, Tonbänder mit über 700 Stunden aufgezeichneter Improvisationen. Einige dieser Stücke hatte Scelsis Assistent, der Komponist Viero Tosatti, in Notenschrift festgehalten und erklärte sie nach Scelsis Tod zu seinem geistigen Eigentum — abgesehen von diesem fast exemplarischen Streit darum, ob Urheberschaft erst mit der Notation einsetzt: Das Werk ist einzigartig.

Letztlich verantwortlich für die eindrucksvolle Selektion der Musik, der wir auf „Natura Renovatur“ begegnen können, scheint die Cellistin Frances-Marie Uitti zu sein, die Scelsi 1975 in Rom kennenlernte, dort mit ihm improvisierte und schließlich an einem dreiteiligen Werk für Cello mitarbeiten konnte, das ihr schließlich sogar gewidmet worden ist: „Trilogia“. Nach Scelsis Tod verbrachte die Cellistin 18 Monate damit, die hinterlassenen Tonbänder zu sichern und zu katalogisieren. „Natura Renovatur“ enthält „Ygghur“, den Schlussteil von „Trilogia“, dazu für Cello arrangierte Versionen von zweien seiner „Three Latin Prayers“, die eigentlich für Singstimme geschrieben worden sind und in ihrer Askese wunderbar mit „Ygghur“ kontrastieren, das nach Virtuosität verlangt.

Die restlichen Stücke wurden vom Münchner Kammerorchester unter Leitung von Christoph Poppen eingespielt: ein neuer, bereichernder Blick auf Scelsis Werk, der durch geänderte Arrangements und eine entschlossene Auswahl erst möglich wurde. Trotzdem empfehle ich auch noch Scelsis Streichquartette, eingespielt vom Arditti Quartett, weil dieses in seiner gänzlich anderen Herangehensweise an das gleiche oder an verwandtes Material auch einen interessanten Vergleich zulässt, wie produktiv unterschiedlich die Ästhetik sein kann, auf die unterschiedliche Musiker und Produzenten setzen.

Süddeutsche Zeitung, 25.10.2006