DVDs
Unbenanntes Dokument

Daniel Variations


In seinen 2006 entstandenen Daniel Variations für großes Ensemble [mit zwei Sopranen und zwei Tenören] ging Steve Reich im Hinblick auf außermusikalische Sinnaufladung noch einen Schritt weiter als in You Are: Die geistlichen Worte – aus dem Buch Daniel des Alten Testaments – geben nicht mehr nur eine Art spirituellen Urgrund ab, sondern sind mit einem aktuellen Ereignis verknüpft: Reich ließ Äußerungen des amerikanisch-jüdischen Reporters Daniel Pearl einfließen, der 2002 von islamischen Extremisten in Pakistan entführt und ermordet wurde. Auch die Daniel Variations sind viersätzig, wie in You Are ist jedem Satz [alternierend zwischen dem Buch Daniel und Daniel Pearl] ein Zitat zugeordnet.

»Ich hatte einen Traum. Die Gedanken, die ich auf meinem Bett hatte, und die Gesichte, die ich gesehen hatte, beunruhigten mich« – dieser Vers [Daniel 4,2] sprach Reich zum einen wegen der in ihm formulierten düsteren Ahnung und zum anderen wegen der indirekten Beziehung zum Irak an: Ist es doch König Nebukadnezar aus Babylonien [dem heutigen Irak], der den Propheten Daniel bittet, diesen bösen Traum zu deuten. In der Musik scheint dieser »Traum« insofern auf, als dass der Tonsatz von Chromatik geprägt ist und der harmonische Grundriss auf vier – im Verhältnis einer kleinen Terz zueinander stehenden – Mollakkorden beruht: e-Moll, g-Moll, b-Moll und cis-Moll. Zwar treiben kleinformatige rhythmische Figuren, zumal in den Vibraphonen, stoisch vorwärts; sie werden aber von den anderen Instrumenten über weite Passagen mit einer geheimnisvollen Aura umhüllt – so als würden sich dunkle Träume wie Schleier um sie legen. Und Momente rhythmischer Kulmination entfalten in diesem Kontext geradezu dramatische Wirkungen.

Über den Text »Dass doch der Traum deinen Feinden gelte« ist der dritte Satz zwar mit dem ersten verbunden, inhaltlich schlägt das neuerliche Zitat aus dem Buch Daniel [4,16] freilich eine neue Richtung ein. Dieser Entwicklung trug Reich Rechnung, indem er sich des gleichen harmonischen Gerüsts bediente; allerdings verschaffte er der in den Worten zum Ausdruck gebrachten Projizierung des »Traums« auf den »Feind« durch stärkere Fokussierung der rhythmischen Energie Geltung. Mit fulminanter motorischer Präsenz ziehen die eng miteinander verzahnten [vornehmlich über rhythmische Eigenschaften definierten] Motive ihre Kreise – wobei Verlagerungen der klanglichen Schwerpunkte und längere Pausen einzelner Instrumentengruppen für Perspektivwechsel im musikalischen Raum sorgen. Ganz im Spektrum der Durtonarten ist dagegen die harmonische Konfiguration des zweiten und vierten Satzes angesiedelt. Vordergründig betrachtet sind Daniel Pearl auf diese Weise zwar entschieden freundlichere Harmonien zugeordnet, doch ist durch die Verwendung von G-Dur, B-Dur, Des-Dur und E-Dur und dem Kleinterzabstand der Akkorde zueinander der variative Bezug zum ersten und dritten Satz evident. Der zweite Satz gilt der schlichten Aussage »Mein Name ist Daniel Pearl« – genau mit jenen Worten setzte aber ein Statement ein, das Pearl ins Mikrophon seiner Entführer [und Mörder] sprach oder sprechen musste.

Unmittelbar auf den Tod deutet dann das Zitat des vierten Satzes: »Ich hoffe wirklich, dass Gabriel, wenn alles vorüber ist, meine Musik gefällt.« Das Finale erhält so den Charakter eines Requiems, den Reich in der Musik aber keineswegs überbetont. Welche Bewandtnis es mit diesen Worten hat, erläuterte der Komponist im Folgenden: »Einmal, während einer zweitägigen Fahrradtour den Fluss Potomac hinaus, fragte ihn sein Freund Tom Jennings, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube. ›Ich weiß nicht‹, antwortete Danny. ›Ich habe keine Antworten, hauptsächlich Fragen.‹ Dann fügte er hinzu: ›Aber ich hoffe doch, dass Gabriel meine Musik gefällt.‹ Nach Dannys Tod ging Tom die Schallplattensammlung seines Freundes durch und stieß auf das Album Stuff Smith and the Onyx Club Orchestra. ›Danny mochte Stuff Smith, den großen Jazzgeiger, sehr‹, erklärt Tom, der auf Seite A, drittes Stück, I Hope Gabriel Likes My Music fand. Ich habe weder die Musik noch den Text des Liedes verwendet; den Titel habe ich sogar geändert. Den Ausdruck ›wenn alles vorüber ist‹ habe ich selber hinzugefügt. Ich hoffe, Daniel wäre damit einverstanden.«

Aber nicht nur über dieses Lied schließt sich der Kreis zur Musik: Daniel Pearl selbst war nicht nur Reporter, sondern auch Geiger, der vor allem Jazz und Bluegrass spielte – was Reich berücksichtigte, indem er im vierten Satz, ebenso wie im zweiten, die Streicher bei der Melodieführung unaufdringlich hervorhob. Überhaupt, dass er in den Daniel Variations, trotz des ihn so intensiv berührenden Schicksals von Daniel Pearl, ohne Pathos auskommt, wirft ein bezeichnendes Licht auf seine künstlerische Haltung. Ohne in stilistischer Gleichförmigkeit zu verharren, bleibt Steve Reich sich treu, indem er die Musik für sich selbst sprechen lässt. Er bleibt sich gerade dadurch treu, dass er sich auch hinsichtlich seiner »Sujets« stetig weiterentwickelt – obwohl »Wiederholung« in seiner Musik eine maßgebliche Rolle spielt, hat er doch immer wieder Neues zu sagen.