Pressestimmen zur musica viva Aufführung in der Lukaskirche
Atem, Strom, Geräusch
"Komponist Helmut Lachenmann in einem „Musica viva“-Konzert Musik, um das Hören neu zu lernen. Radikal zurückgenommen, oft auf leise Geräusche beschränkt und bis zum Atemgeräusch reduziert sind die Kompositionen des deutschen Avantgardisten Helmut Lachenmann (68, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“). Ihm und seinem italienischen Lehrmeister Luigi Nono (1924 – 1990) war ein Sonderkonzert der Reihe „Musica viva“ in der enorm gut besuchten Lukaskirche gewidmet.
Besonderer Reiz: Lachenmann selbst trat in einem der Stücke als Sprecher auf. Ziemlich hinderlich: Die schwierige Akustik der (atmosphärisch anheimelnden) Kirche ließ die empfindlichen Nuancen der Werke oft in extremer Verschwommenheit untergehen.
Ein Jammer, denn die Schola Heidelberg und das Ensemble aisthesis unter der Leitung von Walter Nußbaum (Klangregie Reiner Lorenz) brachten durchweg gutes Feingefühl für die hochkomplexen Stücke mit: etwa für Nonos bannend klangsinnliches „Io, frammento da Prometeo“ (1981) oder das immer noch verblüffend aktuell klingende „Consolation II“ für 16 Stimmen von Lachenmann (1968), das Sprache hochdifferenziert in vokale Elementarlaute zersetzt.
Lachenmanns 35-Minuten-Stück „...zwei Gefühle...“ (1992) über einen systematisch zum Stocken gebrachten Text Leonardo da Vincis wurde eher zur sich totlaufenden Manier – und das lag nicht an der Akustik."
Roland Spiegel, Abendzeitung München, 27. Okt. 2003
Der Wanderer
"Helmut Lachenmann bei der Münchner musica viva
Kaum hat der Bayerische Rundfunk den neuen Chefdirigenten seines Symphonieorchesters etabliert, da erinnert der Sender stolz an sein nächste Musikprojekt, den – ein Paradox – Avantgarde-Traditionszyklus der musica viva. BR-Intendant Thomas Gruber hat allen Grund zur guten Laune, wenn er von der großen Akzeptanz redet, die die Reihe seit sechs Jahren auf sich zieht: Seit der Dresdner Komponist, Opernintendant Udo Zimmermann die viva-Programme verantwortet. Gruber zitiert sogar einen Zimmermann-Satz, der für den Chef einer großen Medienanstalt – und für den allmächtigen Quotenzwang – nicht gerade typisch ist: „Das Unbequeme ist es, was den Menschen weiterbringt.“ Für eine Sendernische darf das gelten.
Ein „Unbequemer“, Helmut Lachenmann, stand denn auch im Mittelpunkt der ersten von neun musica-viva-Veranstaltungen: im Sonderkonzert mit Werken von Lachenmann und Nono. Das Besondere des Konzerts schwebte zunächst im hohen Raum der Lukaskirche. Für die Feinmotorik der Musik Lachenmanns mit ihren subtilen Erzeugnissen aus Klang und Geräusch mag dieser Raum – der Komponist selbst befürchtete es schon im Vorfeld – nur bedingt geeignet zu sein. Das Vorurteil war zumindest teilweise zu revidieren. Denn gleich beim Eingangsstück, dem spannungsvollen „Mouvement (-vor der Erstarrung)“, Lachenmanns bisher erfolgreichstem Ensemblewerk überhaupt, wurde deutlich, dass eine weite Akustik dieser Musik keineswegs Abbruch tut.
Was da langsam in „Bewegung“ gerät aus scheinbar toten, jedenfalls erstarrten Klangpartikeln, die Lachenmann aus allen Ecken und Enden eines Kammerensembles zusammenklaubt, aus dessen versprengten Tontrümmern und „quasi letzten Zuckungen“, das verwandelt sich bald in einen abenteuerlichen Tanz der Gespenster, in geisterhafter Motorik. Nur scheinbar chaotisch gefügt, werden die Klänge von einer eisernen strukturellen Ordnung und Phantasie zusammengehalten. Mag nun der Raum der Lukaskirche solche raffinierten Klang-Geräusch-Provokationen vielleicht ihrer aggressiven Schärfe berauben, ihre Vitalität und Schlüssigkeit bleibt erhalten."
"„Mouvement“ ist und bleibt das Husarenstück einer in Gang gesetzten Klangbewegungsphantasie. Das Ensemble Aisthesis (Wahrnehmung) machte seinem Namen dabei alle Ehre, denn Dirigent Walter Nussbaum, ursprünglich Organist und Kantor, Gielen-Schüler, versteht es glänzend, die Kräfte der Musiker präzise zu bündeln, ihre Schlagkraft zu entfesseln. So wurde Lachenmanns „Mouvement“ zum Ereignis, dem sogleich ein zweites folgte: der Schlussabschnitt aus „Io, frammento da Prometeo“ von Luigi Nono, bei dem Helmut Lachenmann – einer der ganz wenigen Nono-Schüler – Ende der fünfziger Jahre in Venedig studieren durfte. Endlich wurde der Kirchenraum zum legitimen Instrument, denn Nonos Komposition für zwölf Stimmen (Schola Heidelberg) und Live-Elektronik (Rainer Lorenz) von 1981 suggeriert mit der Langsamkeit der Klänge in spannungsreichen Intervallen fast so etwas wie die Unendlichkeit. Transzendenz entsteht, aus Fragmenten wird ein Cantus der sanften melodischen Schwünge und harmonischen Reibungen. Klänge beginnen zu leuchten.
Nach zwei frühen Lachenmann-Stücken, „Consolation I“ und „Consolation II“ für Stimmen mit Schlagzeugern, Beispielen experimenteller Klang- und Sprachmanipulation mit älteren Texten (Ernst Toller, Wessobrunner Gebet), schloss sich der Kreis – durch jene „Musik mit Leonardo“, genannt „...zwei Gefühle...“, die Lachenmann vor zehn Jahren seinem genialen Musiktheater vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ einverleibt hat. Es geht um Leonardo da Vincis Höhlentext, die Bewegung des „Wanderns“, die Suche nach inneren Bildern von den zwei Gefühlen: Angst und Sehnsucht. Ein Sprecher (der Komponist), der den Leonardo-Text immer wieder atomisiert, und ein verzweigtes Klang-Geräuschgespinst treffen sich zu lyrischen Kälteschauern. Die Folge ist: die Musik und die Sinne werden hellhörig, frei. Und der Traum von Wärme wird zur Obsession."
Wolfgang Schreiber, Süddeutsche Zeitung, 27. Okt. 2003