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Karl Amadeus Hartmann


Karl Amadeus Hartmann wurde am 2. August 1905 als jüngster Sohn des Lehrers und Malers Friedrich Richard Hartmann und dessen Frau Gertrud Hartmann in München geboren. Schon früh kam er mit Kunst und Musik in Berührung. Im Jahr 1919 begann er eine Ausbildung zum Lehrer, die er jedoch nach drei Jahren abbrach. Von 1924-1929 studierte er Posaune und Komposition bei Joseph Haas an der Staatlichen Akademie der Tonkunst. Erste Kompositionen konnte Hartmann der Öffentlichkeit im Rahmen des von Clemens von Franckenstein eingerichteten Opernstudios der Bayerischen Staatsoper sowie in den Räumlichkeiten des avant-gardistischen Künstlerverbands "Die Juryfreien" vorstellen. Zu den dort

aufgeführten Werken gehörten die Kammeroper Leben und Sterben des heiligen Teufels (eine der fünf Kammeropern, die Hartmann unter dem Titel Wachsfigurenkabinett zusammengefasst hat),die Jazz-Toccata und –Fuge (1928), die Sonatine für Klavier (1931), die Tanzsuite für Bläserquintett (1931), die Burleske Musik für Bläser Schlagzeug und Klavier (1931) und das Kleine Konzert für Streichquartett und Schlagzeug (1932). Diese frühen Stücke zeigen deutlich Einflüsse des Jazz und Dadaismus, der Persiflagentechnik und der Neuen Sachlichkeit.
In das Jahr 1933 fällt die Begegnung mit dem Dirigent Hermann Scherchen, dem Hartmann zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Das Scherchen gewidmete 1. Streichquartett aus dem Jahr 1933 reflektiert durch die Allgegenwart eines jüdischen Volkslieds die politische Situation zur Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Von nun an diente Hartmann das Komponieren als Parteinahme für Unterdrückte und als Bekenntnis zur Humanität; besonders jüdisch beeinflusste melodische Wendungen ziehen sich durch die folgenden Symphonien und die Oper Simplicius Simplicissimus. Anregung zur Komposition dieser Oper nach Grimmelshausen sowie die Konzeption des dazugehörigen Szenariums gingen auf Scherchen zurück. Die expressive musikalische Sprache speist sich aus kontrastierenden Elementen wie Volkslied, Choral, psalmodierender Rezitation und symphonischen Abschnitten. Das Werk handelt von der Würde des Einzelnen gegenüber einer Welt der Greuel und stellt Bezüge zwischen dreißigjährigem Krieg und der Zeit des Faschismus her: "Beklagenswerterweise ist die Welt heute in einem Zustand, der die Unruhe, die Ängste und die Trauer von damals uns heute wieder nachfühlen läßt. Hält man der Welt den Spiegel vor, so daß sie ihr gräßliches Gesicht erkennt, wird sie sich vielleicht doch einmal eines Besseren besinnen. Trotz aller politischen Gewitterwolken glaube ich an eine bessere Zukunft: das soll die Schluß-Apotheose in meinem Simplicius ausdrücken." (Hartmann, Kleine Schriften)
Seine folgenden Kompositionen verstand Hartmann als persönliche Stellungnahme gegen die Verfolgungen und Unterdrückungen in Nazideutschland. Sein erstes Orchesterwerk MISERAE widmete er den Häftlingen des KZs Dachau, seine 1. Sinfonie zu Worten Walt Whitmans trägt den Untertitel Versuch eines Requiems.
1934 heiratete Hartmann Elisabeth Reussmann, ein Jahr darauf kam der gemeinsame Sohn Richard zur Welt. 1935 errang Hartmann mit MISERAE zudem internationale Anerkennung auf dem IGNM-Festival in Prag; im Jahr 1936 gewann er mit dem 1. Streichquartett den 1. Preis der Genfer Kammermusikvereinigung Carillon.
Auch das 1939 entstandene Violinkonzert mit dem Titel Concerto funebre geriet zum Bekenntniswerk, das als Klage und Anklage, als Ausdruck der Aussichtslosigkeit für das Geistige und der trotz alledem nie aufgegebenen Zuversicht verstanden werden will. In den Jahren 1941/42 wurde Hartmann Schüler des bei Wien lebenden Anton Webern. Die Faszination für die mit höchster Konstruktion gepaarte Gefühlsdichte Webernscher Kompositionen beeinflussten Hartmanns weiteres Schaffen stark. Verschmelzung von Konstruktion und Ausdruck wurden entscheidender Bestandteil seines Kompositionsprozesses.
Von 1941-43 arbeitete er an dem großen Orchestertryptichon Sinfoniae Dramaticae, bestehend aus der Symphonischen Ouvertüre "China kämpft, den Symphonischen Hymnen und der Symphonischen Suite "Vita nova" nach dem gleichnamigen Gedicht von Percy Bysshe Shelley. Gegen Ende des Krieges wurde Hartmann Zeuge eines Zugs Inhaftierter, die von der SS aus dem Lager Dachau getrieben wurden, damit sie nicht von den sich bereits im Land befindlichen US-Soldaten gerettet werden könnten. Dies Erlebnis verarbeitete er in seiner Sonate "27. April 1945" für Klavier, die er mit folgendem Vorwort versah:
"Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von 20.000 Dachauer Schutzhäftlingen an uns vorüber-
Unendlich war der Strom
Unendlich war das Elend
Unendlich war das Leid."
Die Sonate geht an die Grenzen der Spielbarkeit und lotet somit alle technischen wie gefühlsmäßigen Extreme aus. Ihre zwischen Trauer, Anklage, Zorn und Verzweiflung schwankende Tonsprache legt Zeugnis ab von Hartmanns tief empfundener Humanität, seinem menschlichen Engagement und seiner Anteilnahme an dem Leid der Opfer des Nationalsozialismus.
Das nach Ende des Krieges fertiggestellte 2. Streichquartett nutzt die wiedergewonnene Freiheit und knüpft kompositorisch an abgebrochene und durch das dritte Reich unterdrückte Traditionen, besonders an das Schaffen Bartoks und Kodalys, an. Der internationale Ruf als engagierter Regimegegner führte 1945 zur Ernennung zum Dramaturgen der bayerischen Staatstheater mit der besonderen Aufgabe, das Interesse an der bisher verfemten zeitgenössischen Musik wiederherzustellen und bedeutende Werke des 20. Jahrhunderts im Konzertleben der Stadt zu rehabilitieren. Die Bestrebungen, das Publikum nicht nur mit den Werken der klassischen Moderne, sondern auch mit der herausfordernden neuesten Musik junger, aufstrebender Komponisten vertraut zu machen, waren der Ursprung der Musica-Viva-Konzerte, die Modell für zahlreiche ähnliche Veranstaltungen im In- und Ausland standen und deren Leitung Karl Amadeus Hartmann bis zu seinem Tode innehatte. Zeitgleich machte Hartmann sich an die Revision verschiedener bereits zuvor entstandener Werke, aus der die ersten vier Symphonien in ihrer endgültigen Gestalt hervorgingen. Ab 1948 steigerten sich so die Aufführungszahlen und damit die Anerkennung Hartmanns in der Bundesrepublik stetig, so dass ihm im März 1949 schließlich der Musikpreis der Stadt München verliehen wurde. Es folgten der Kunstpreis der Bayerische Akademie der Schönen Künste (1950), die Arnold-Schönberg-Medaille der IGNM (1954), der Große Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (1957) sowie der Ludwig-Spohr-Preis der Stadt Braunschweig, der Schwabinger Kunstpreis (1961) und der Bayerische Verdienstorden (1959). Hartmann wurde außerdem zum Mitglied der Akademie der Künste Münchens (1952) und Berlins (1955)gewählt und erhielt 1962 die Ehrendoktorwürde der Spokane University in Washington.
Auch die 1951 vollendete Symphonie Concertante oder 5. Symphonie bezieht ihr Material aus einer bereits vorher konzipierten Komposition, nämlich aus dem Concertino für Trompete und Bläserkammerorchester von 1933. Im Rahmen eines Kompositionsauftrages des Bayerischen Rundfunks arbeitete Hartmann seine Symphonie L’Oeuvre nach Zola um, die 1953 als 6. Symphonie ihre Uraufführung erlebte. In dem ebenfalls 1953 uraufgeführten Konzert für Klavier, Bläser und Schlagzeug setzte Hartmann dann erstmals das Prinzip der variablen Metren um, das Boris Blacher 1950 als erster in einem Etüdenzyklus erprobt hatte. Auch im anschließend komponierten Konzert für Bratsche mit Klavier (1955) fand diese Kompositionstechnik Anwendung.
Als Vorarbeit für die Komposition der 7. Symphonie beschäftigte sich Hartmann verstärkt mit kontrapunktischen Verfahren, studierte Werke der alten Niederländer sowie Johann Sebastian Bachs, die eine Brücke zu den kompositionstechnischen Verfahren Schönbergs oder Weberns schlagen. Erneut stellte sich die Frage nach Verbindung von polyphoner Kontrapunktik und Ausdruck, die Hartmann in der neuen Symphonie durch das Nebeneinander von polyphonen, konzertierenden und variativen Abschnitten auf der einen und lyrisch-dramatischen Momenten auf der anderen Seite zu lösen suchte. 1959 wurde Hartmann trotz zahlreicher Verpflichtungen und Kompositionsaufträge zum Mitherausgeber der bei Schott erscheinenden Neuen Zeitschrift für Musik. 1963 fand in Köln die Uraufführung der 8. Symphonie statt, des letzten vollendeten Kompositionsauftrags. Sie zeichnet sich nicht nur durch vergleichsweise Kürze und Reduktion der Aussage, sondern auch durch eine bis dahin im Hartmannschen Schaffen nicht dagewesene Lust am Experiment mit dem Klang aus. Die beiden Sätze des Werks, Cantilène und Dithyrambe Scherzo-Fuga gehen pausenlos ineinander über und greifen auf das selbe thematische Material zurück. Obwohl von kontrastierendem Charakter fällt in beiden die Bevorzugung von imitatorischen Satzweisen und das Prinzip kontinuierlicher Variation auf. Der letzte Satz mit seinem Nebeneinander von auf demselben Material fußenden Scherzo-, Fugen- und Finalelementen wirkt wie eine diese heterogenen Elemente verschmelzende Summa des gesamten sinfonischen und konzertanten Schaffen Karl Amadeus Hartmanns.
Nach der Vollendung der 8. Symphonie wendete Hartmann sich wieder dem Musiktheater zu, nachdem schon etliche Opernpläne gescheitert waren oder verworfen werden mußten. Zu dem Zyklus Jüdische Chronik, einem Gemeinschaftswerk mit Henze, Blacher, Dessau und Wagner-Régeny, steuerte Hartmann in den Jahren 1960-61 den Mittelsatz Ghetto bei, eine Threnodie auf die letzten Stunden des Warschauer Ghettos. Bis in die letzten Lebensmonate hinein arbeitete er an der Gesangsszene für Bariton und Orchester zu Worten aus "Sodom und Gomorrha" von Jean Giraudoux, die zwar unvollendet blieb, jedoch postum veröffentlicht wurde. Eine Einladung der North Carolina Music Society im Jahr 1963 konnte Hartmann, der zum Honorary Director berufen werden sollte, nicht mehr annehmen. Er starb am 5. Dezember 1963 an den Folgen einer Krebserkrankung.

 

Chronologie

1905 Geboren am 2. August in München

1919 Eintritt in die Lehrerausbildungsanstalt Pasing bei München

1924–29 Studium an der Staatlichen Akademie der Tonkunst München

1928 Gründung der Konzerte bei der Künstlervereinigung “Die Juryfreien”

1928–30 “Wachsfigurenkabinett”

ab 1933 keine Aufführungen von Werken Hartmanns in Deutschland bis 1945; in diesen Jahren Entstehung mehrerer großer Orchesterwerke, die nur teilweise zu Lebzeiten des Komponisten aufgeführt werden (“Miserae”, “Sinfoniae Dramaticae”: Symphonische Ouvertüre – Symphonische Hymnen – Symphonische Suite “Vita Nova”), teilweise in den spätereren Symphonien Nr. 1 und Nr. 3–6 Verwendung finden (Symphonie “L’œuvre”, Symphonie für Streicher, Sinfonia tragica, “Klagegesang”, Kantate “Lamento”)

1934 Heirat mit Elisabeth Reussmann

1934/35 “Simplicius Simplicissimus”

1935 Geburt des Sohnes Richard; Aufführung der Symphonischen Dichtung “Miserae” auf dem IGNM-Fest in Prag unter Hermann Scherchen

1935/36 1. Sinfonie (revidiert 1954/55)

1936 1. Preis beim Kammermusikwettbewerb “Carillon” in Genf für das 1. Streichquartett

1937 Auszeichnung der Kantate “Friede Anno 48” durch die Emil-Hertzka-Stiftung Wien

1938 Aufführung des 1. Streichquartetts auf dem IGNM-Fest in London

1939 “Concerto funebre”

1940 “Concerto funebre” in St. Gallen uraufgeführt

1942 Privatunterricht bei Anton von Webern in Maria Enzersdorf bei Wien

1945 Verpflichtung als Musikdramaturg an die Bayerische Staatsoper; Hartmann begründet die Musica Viva-Konzerte, die er bis zu seinem Tode gestaltet und leitet

1948/49 Symphonien 2–4

1949 Musikpreis der Stadt München

1950 Kunstpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München; 5. Symphonie

1951–53 6. Symphonie

1953 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste

1954 Schönberg-Medaille der IGNM

1957 Großer Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen

1959 Louis-Spohr-Preis der Stadt Braunschweig

1959/60 7. Symphonie

1960/62 8. Symphonie

1961 Kunstpreis der Stadt Berlin; Schwabinger Kunstpreis

1962 Ehrendoktor des Spokane Conservatory, Washington

1962/63 “Gesangsszene zu Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux”

1963 am 5. Dezember in München gestorben