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Roter Faden Schönheit

Versuch über eine Konstante im Werk und Denken von Hans Werner Henze Die Worte heben leise, beinahe schüchtern an. Dann aber, fast unmerklich, gewinnen sie an Kraft und Bewegung, verwerfen die Fesseln von Syntax und Zeichensetzung und spannen weit ihre Flügel aus: »Vor ein paar Tagen habe ich […] Ihre Zwischenspiele aus Boulevard Solitude gehört; nun bin ich leider des Schreibens nicht halb so kundig wie Sie und kann nur sagen, dass Ihre Musik einfach auf mich zukommt und da ist, wunderbar und von der ganz neuen Bewusstheit und dass ich drin die ganz neue Bewusstheit und Gestimmtheit finde, eine neue Schönheit auch, mit der Sie dieser Zeit ein paar Schritte voraus sind sich ihr selbst vorausnehmen und schon verwandeln.« Den Briefzeilen Ingeborg Bachmanns, im Frühjahr 1953 dem aufstrebenden Komponisten Hans Werner Henze zugedacht,ist der erhöhte Herzschlag,den die Musik im Innern ausgelöst hat, förmlich anzumerken.Doch obschon die junge Dichterin noch ganz unter dem Eindruck des Erlebten steht und erfüllt ist von einer erregenden,eigentümlich präsenten Musik,drängen ihre Worte weiter,über die Beschreibung des Gehörten und Gefühlten hinaus.Da ist von einem neuen Geist die Rede, der die Musik durchzieht und der hellwach Hörenden Ahnung gibt von der Luft einer anderen,kommenden Zeit.Dabei fand Bachmann in Henzes Musik, was dieser mit aller Liebe und Hingabe suchend in sie hineingelegt hatte: eine Idee von Schönheit.
Die Suche nach einer »unserer Zeit entsprechenden Schönheit« und einer Musik »voller Wohlklang und des Neulands künstlicher Paradiese« durchzieht Henzes Leben und Werk wie ein roter Faden. Der vor zwei Jahren veröffentlichte Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann gibt ein eindrucksvolles Bild von den frühen Spuren jenes Schönheitsverlangens, das sich in der Unmittelbarkeit der Briefe mitunter geradezu explosionsartig entlädt: »tatsächlich möchte ich, so wie ich glaube, dass Du die schönsten gedichte des jahrhunderts schreibst,die schönste musik von heute schreiben«,teilt Henze Bachmann im August 1955 mit und berichtet ein anderes Mal von seiner Hingabe an die Töne, »in denen sich alle Ideale der Schönheit und der Vollkommenheit verwirklichen lassen«. Stets präsent ist schließlich die Frage beim Komponieren, mit der sich Henze Rechenschaft ablegt über die eigene Arbeit: »ist schönheit darin,wie ich es so sehr wollte?« Bachmann, die Wahlverwandte, greift ihrerseits den roten Faden auf: »Könnte man doch für immer«, schreibt sie Henze im Oktober 1956, »in ein Reich aus Schönheit, Klängen und Worten treten. Ich bin verrückt nach Schönheit.« Nur zwei Tage später,Henze aus Wuppertal: »Wuppertal ist ein ziemlich erbärmlicher ort, wie Du weisst, und widert meine vom golf und vom südlichen barock verwöhnte schönheitsdurstige seele an«,wobei Henze seine »schönheitsdurstige seele« ereignishaft wie einen Leuchtturm aus der italienischen Briefprosa aufragen lässt [»Wuppertal è un luogo abbastanza deplorevole come tu sai, e fa schifo alla mia schönheitsdurstige seele vizziata dal golfo e dal barocco meridionale.«]. Es mag verwundern, mit welcher Emphase sich diese Worte aus dem Strom der Zeit erheben, in der das Sprechen über Schönheit fragwürdig geworden war und im Verdacht stand,den Schrecken des Holocaust gedächtnislos übergehen zu wollen. In einer Zeit, in der das Schöne als eine der Welt fremde Kategorie verschmäht und zur verbotenen Frucht erklärt wurde, die in der Kunst beschädigt, gar aus ihr verbannt werden sollte – in dieser Zeit verpönter Schönheit klingen die Stimmen Henzes und Bachmanns wie hartnäckige Kontrapunkte. Doch auch im Wissen um den dunkelnden Stern, den sie
bewohnen und das Niemandsland, in dem die Kunst nach 1945 sich befand, bleibt das Schöne für Henze und Bachmann eine unverrückbare Grundbedingung menschlichen Daseins,die nicht aus der Welt,erst recht nicht aus der Kunst zu verbannen ist.
Der Brief mit dem aufragenden Wort von der »schönheitsdurstigen Seele«, das nicht in der Sprache der italienischen Wahlheimat, sondern nur in derdes Vaterlandes zu solch prägnantem Ausdruck finden konnte, spiegelt auf subtile, fast symbolische Weise, wie eng Henzes Schönheitsbegriff mit der eigenen Biographie verflochten ist – mit Trennung und Abgrenzung, mit Deutschland und der Sehnsucht nach Süden. Henzes Schönheitsdurst, der nicht zu trennen ist von den traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, ist Folge von Entbehrung, Zerstörung und schmerzlicher Leere. Die Suche nach Schönheit weist den Weg aus der Ausweglosigkeit: Im Frühjahr 1953 zieht Henze nach Italien.Hier, im Angesicht von Anmut und Grazie der südlichen Landschaft,fällt ihm Licht und Leben zu.
Henzes Streben nach Schönheit ist ein Akt der Befreiung. Er vollzieht ihn geographisch, aber auch musikalisch. Mit der Abkehr vom Darmstädter Dogma eines der Zwölftontechnik verpflichteten hermetischen Komponierens, in dessen Korsett sich Henze nicht zwängen lassen will, gelingt ihm die Überwindung der Norm.Die Vision von südlich-leuchtender Musik voll Sinnlichkeit und Sensibilität wird zur frühen Leitidee seines Schaffens.Wer um den Trümmerhaufen und die Tristesse im Nachkriegsdeutschland weiß, die Henze hinter sich gelassen hat, versteht die innere Notwendigkeit, mit der sich weitgeschwungene Linien und melodieerleuchtete Kantilenen in seiner Musik Platz verschaffen und festlich entfalten. Da singt einer über Trümmern, die im Kopf noch geistern, und Klänge glühn wie Goldorangen, wo der Staub der Asche noch an den Sohlen klebt. Henzes Schönheit weiß um ihr provokantes Potential, ist Gegenentwurf, Protest: Musik, die ins Freie führt.
Das Neuland, das sich Henze mit seinen Klängen errichtet hatte und aus denen Ingeborg Bachmann den Geist einer kommenden Zeit vernahm, ist jedoch kein Utopia ohne Grund und Boden. Henzes Neuland wurzelt vielmehr in den Tiefenschichten der Vergangenheit.Dort, in den Fundamenten der Tradition, in der sich Geschichte bedeutungsträchtig sedimentiert hat, liegt das Geheimnis von Henzes »neuer Schönheit« – sie erblüht auf dem Humus »alter Schönheit«.
Die in Jahrhunderten gewachsene, in feinsten Verästelungen ausgeprägte grundtonbezogene Musik der »alten Meister«, die sich in ihrem harmonischen Wechselspiel von Spannung und Entspannung der menschlichen Seelendisposition verpflichtet fühlt, ist Henze Vorbild und mustergültiges Ausdrucksmittel, mit dem sich »heutzutage noch genauso viel aussagen lässt wie früher: nämlich alles«. Henze verbindet eine tiefe Verwandtschaft mit diesen totgesagten Schönheiten. Die geschichtsträchtigen Formen der vergangenen Musik, ihre bedeutungsvollen, Sinn stiftenden Töne und Klang gewordenen Gedanken erscheinen ihm wie klassische Schönheitsideale, »nicht mehr erreichbar, aber doch in großer Ferne sichtbar, Erinnerungen belebend wie Träume«.
Henzes Arbeit am Schönen, jenem Fernen, Verschütteten und unwiederbringlich verloren Geglaubten, ist filigrane Erinnerungsarbeit.Henze greift den roten Faden alter Schönheit, Halt an ihm suchend,auf,knüpft an ihn an, spinnt ihn fort und flicht ihn schließlich – neu befühlt – ein in originäres Klanggewebe, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Traum, Erinnerung und Utopie beziehungszauberisch aufgehen in neuem Licht. Henze schenkt auf diese Weise dem Nachhall vergangener Zeiten Gehör,lässt ihn gleichsam ein in das eigene Werk. Die Resonanzräume, die dabei entstehen, sind die lieblichen Wohnungen seiner Musik. In ihnen darf sich der Mensch mit seinem Fühlen und seiner Sehnsucht nach Harmonie,die nicht aus der Welt zu schaffen ist, zu Hause wissen.Henzes Resonanzraum-Musik, in der die Klänge der Kindheit leuchtend aufblitzen wie seelische Ereignisse, gibt dem Hörenden Orientierung, sie ist Musik mit menschlichem Antlitz. Dass ihre »neue Schönheit« Kraft aus dem Adel »alter Schönheit« schöpft,ist keinesfalls paradox, sondern eine der herausragenden Eigenschaften von Henzes rückwärts gekehrter,prophetischer Kunst.
Von »alter Schönheit«, mit der sich Henzes Musik verwandt fühlt, ist auch in Ingeborg Bachmanns Gedicht Freies Geleit die Rede. Henze hielt es für »eines der schönsten gedichte der welt […] und eine arie daraus zu machen wer weiss wie schön das wird«. In Nachtstücke und Arien für Sopran und großes Orchester [1957] hat er Bachmanns Verse, als Aria II, in Musik gesetzt. Das Gedicht – 1957 im Angesicht der geplanten atomaren Aufrüstung der Bundeswehr entstanden – ist eine machtvolle Absage an Krieg und Zerstörung und zugleich hymnischer Preisgesang auf die Schönheit der Natur.Die Schlussstrophe lautet: »Die Erde will ein freies Geleit ins All / jeden Tag aus der Nacht haben, / dass noch tausend und ein Morgen wird / von der alten Schönheit jungen Gnaden.«
Wer Henzes Musik zu den Worten von der »alten Schönheit« je mit wachem Ohr empfunden hat, wird sie kaum vergessen können. Inspiriert vom Dichterwort, stellt sich Henzes Schönheit gleichsam auf Zuruf ein und feiert ihren Auftritt. Doch leise dies alles. Ferne Verzauberung. In lichter Höhe schwebt die Singstimme. Henze schenkt der »Schönheit« das längste Melisma des gesamten Werks, dehnt das Wort, verleiht der Sprache Flügel, verwandelt sie in Klang. So, zu einer Linie der Schönheit geworden, windet und wendet sich das Wort in wundersamem Lauf.Die Klänge des Orchesters setzen den Worten Lichter auf: Gleißendes Farbenspiel der Akkorde,in denen sich das Leuchten alter Schönheit unablässig bricht. Die Musik klingt heimatlich herüber,und doch jung und neu und einzigartig zugleich.
Man meint zu hören, dass Henze seine Idee von Schönheit hier gleichsam auskomponiert hat. Schönheit jedoch, die nicht beschönigt. Dem wehen Schillern und Oszillieren,dem Changieren und Vibrieren der Klänge ist gefährdendes Potential miteingeschrieben. Zwielicht. Die hellen Lichter,mit denen der Satz ausklingt, flimmern über bedrohlichen Tiefen, als würden die »unerhörten Stimmen des Verderbens«, gegen die der Gesang zuvor noch aufbegehrt hatte, untergründig mitschwingen und künftiges Glück in Frage stellen. »Man fühlt«, schreibt Henze an Bachmann, »dass es eine idee von schönheit und frieden ist, die jeden moment erschüttert werden könnte«. Auratische Schönheit,die um ihre Verletzbarkeit weiß.
Was in den Schlussklängen von Aria II der Idee nach angelegt ist, findet sich in Henzes Werken in vielfältigen Brechungen, Beleuchtungen, Variationen. Henzes Schönheiten sind nie Paradiese, die abgekoppelt sind von der Welt. Sie haben Wurzeln,die aus schwarzer,tiefer Substanz immer erst herausgelöst werden müssen. So spürt man selbst in Henzes schönster Musik die bedrohlichen Kräfte,die dem Aufbegehren erst Aufwind gaben,hört im klingenden Schönheitsprotest die Echos der Not,die diesen erst auslösten.Darum kennen Henzes Werke lichte Paradiese ebenso wie Bezirke des Brutalen.Vom Gesang der Nachtviolen weiß diese Musik wie vom Heulen der Sirenen.Mörder und Tyrannen erheben ihre Stimmen neben Ausgestoßenen und Leidenden, Bittenden und Hoffenden.Henzes Musik, als Abbild des Lebens, erfasst die Welt in ihrem So-Sein – mit all ihren Schrecken und allen Trieben des Schönen,die aus ihr nicht zu vertreiben sind. Diese Dialektik bestimmt den Grundton von Henzes Musik. Das Schöne ist ohne den Schrecken nicht zu denken. So vernimmt man in dieser Musik – betroffen – noch einen weiteren Ton: Trauer,die das Schicksal der Schönheit kennt und Henzes Klänge noch selbst in ihren hellsten Momenten dunkel durchzieht.
Dennoch gehört es, allen Widerständen zum Trotz, zur Lebensaufgabe und Lebensleistung des Komponisten Henze, einen Begriff von Schönheit in die Eigengesetzlichkeit der Tonsprache zu überführen, um mit ihr eine tönende Gegenwelt zu errichten, die Bestand hat.Henze versteht dabei die Musik als »Fortsetzung eines Traums von der Schönheit der Welt, aus dem einmal eine konkrete Wirklichkeit hervorgehen könnte«. An der Verwirklichung dieses Traums arbeitet er ein Leben lang. Auch heute noch, und – so scheint es – mehr denn je, spinnt Henze sehnsuchtsvoll am roten Faden Schönheit, um mit ihm – wie er im Januar 2003 berichtet – »die im Dunkel der Gezeiten dahindämmernden Paradiese aufleuchten zu lassen […] und unserem elendig verarmten Dasein ein wenig aufzuhelfen aus der bittersten Not« : Der rote Faden Schönheit wird gleichsam zum Ariadnefaden, der den Komponisten aus den labyrinthischen Verwicklungen und Ausweglosigkeiten des Lebens befreit und ihm neue Kraft schenkt.
In L’Upupa [2003], seiner vorläufig letzten Oper, hat Henze die ewige Suche des Künstlers nach Schönheit gar zum Sujet erhoben. Das Gleichnis vom schönen, doch flüchtigen Wiedehopf hat Symbolcharakter.Der herbstliche Ton,der durch die späten Klänge weht,ist unüberhörbar von Wehmut erfüllt: Schönheit einzufangen, gar zu bannen, ist ein utopisches Unterfangen. »Die blaue Stunde« aber, jener große, unvergleichlich sehnsüchtige Orchestergesang, mit dem die Oper verklingt, steckt voller Verheißungen und Ausblicke ins Offene.Wenn die Macht der Schönheit – wie Stendhal meinte – wesentlich darin besteht, Trägerin eines unausgesprochenen Versprechens zu sein, dann ist Henzes Komponieren mit der Weitsicht eines Propheten vergleichbar, der um die Erfüllung dieses Versprechens, um die Wirklichkeitswerdung der Utopie weiß.Henzes Schönheitsklänge sind blaue Stunden, in denen ein künftiger Morgen schon dämmert.

Programmheft musica viva (11. Mai 2006)