Synaphai - Das Klavier als Ensemble
Berühmt wurde Synaphai , Xenakis' Komposition für Klavier und Orchester aus dem Jahr 1969, vor allem deshalb, weil die Notation des Klavierparts bis zu zehn Systeme beanspruchte – oder wie Maurice Fleuret es ausdrückte »für jeden Finger eines«. Xenakis selbst schrieb dazu: »Der Pianist spielt, soweit er es vermag, alle Zeilen oder vielmehr Stimmen.« Das bedeutet, dass der Pianist möglichst auch die Kunst des Partiturspiels beherrschen sollte. Denn sobald der Notentext mehr als die bereits zur Zeit der klassischen Neuen Musik fast schon obligatorischen drei Systeme umfasste, erweckte er innerhalb einer Partitur den Eindruck, eine zusätzliche Partitur für ein Ensemble zu sein. Der Part für das Soloklavier ist daher nicht eine Solostimme, sondern repräsentiert stets ein variabel besetztes Ensemble, das mit anderen Ensembles oder dem Orchester Verbindungen eingeht oder sich davon absondert. »Synaphai« heißt nämlich soviel wie »Konnexität«, und diese bedeutet wiederum »Verbindung, Zusammenhang, Verwandtschaft, Abhängigkeit«. Mit ihren Möglichkeiten und Problemen beschäftigt sich Xenakis in diesem Stück. || Und zwar am Beispiel der Verbindung von Einzeltönen in Form von Repetitionen, Konnexitäten der Elemente also: einerseits maximale, auch »liquide« oder »legatissimo« genannt; andererseits minimale Konnexitäten, auch »harte« genannt. Die maximalen Konnexitäten werden oft auch als Glissandi notiert. Werden zwei Töne in eine schnelle Bewegung versetzt, entsteht ein Tremolo, dessen Dichte variieren kann, und ganz von selbst zeigt sich, welche Möglichkeiten die vielen, aber nie zu vielen Systeme für die Komposition eröffnen. Denn natürlich sollen die in verschiedenen Zeilen notierten Tremoli verschiedene Dichten aufweisen, so dass mit ihnen auch unterschiedliche Überlagerungen zu erzielen sind. Dabei ist laut Partitur auf jeden Fall die stärkste Dichte vorzuziehen. Auch der Pedalgebrauch soll die Konnexitäten der Zeilen zusätzlich verstärken. || Kraft der Notation auf bis zu zehn Systemen ist das Klavier selbst ein Ensemble, das es mit jedem Instrumentalensemble aufnehmen kann – selbst wenn es, wie das Orchester eine schon übergroße Besetzung aufweist. Danach stellt sich die Frage, inwieweit diese doppelte Form der Besetzung eine neue Form der Monumentalität ermöglicht und mit ihr eine neue, symphonische Form des Klavierkonzerts im Sinne des Zweiten Klavierkonzerts von Brahms. Ein Komponist, den Xenakis übrigens sehr verehrte. Freilich kann sie sich nicht mehr in Mehrsätzigkeit und zeitlichem Volumen ausdrücken, eher in erhöhter Intensität. Wenige Jahre zuvor und noch in kammermusikalischer Verkleidung lieferte Xenakis dafür ein Beispiel: In dem Sextett für Klavier und fünf Blechbläser Eonta von 1964, das noch alle Essentials seiner frühen Theorie realisiert, in der es um die Prinzipien einer stochastischen, auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Musik ging, die sich bereits der Mithilfe des Computers der Firma IBM versichert hatte. Damals errechnete er schon den Klavierpart, der mit Tönen logische Operationen darstellte, und wie auch andere Stücke zählte Xenakis das Werk zur »Symbolischen Musik«. Für Synaphai , das nur wenige Jahre später entstand, gilt das nicht mehr: Es wurde gleichsam theoretisch ungeschützt publiziert oder steht vielmehr für vielerlei Untersuchungen. || Wie wenige andere Stücke verweist es bereits auf Künftiges, das damals im Jahr 1969 noch gar nicht komponiert war, aber im Zusammenhang mit dem Thema Konnexität bereits erprobt wurde. So etwa die Verwendung von graphischen Verzweigungen in dem Klavierstück Evryali von 1973 und die topologischen Transformationen in Xenakis' Zweitem Klavierkonzert Erikthon aus dem Jahr 1974. Aus der Tremoloperspektive von Synaphai jedoch läßt sich die motivisch regenerierte Sprache seines Dritten Klavierkonzerts Keqrops von 1986 nicht einmal erahnen, so grundlegend verschieden vom aktuellen Stück, ja diesem diametral entgegengesetzt erscheint die neu gewonnene Gestaltenfülle. || Synaphai beginnt unvermittelt, mit bis zu neun simultanen Tonrepetitionen und mit minimaler, »harter« Konnexität über dem unregelmäßig wiederholten »Grundton« dis'. Die begleitenden Akkorde der Streicher sind räumlich gestaffelt: Die jeweils aus den ersten und zweiten Violinen, den Bratschen, Violoncelli und den Kontrabässen gebildeten vier Untergruppen des Orchesters spielen in der ersten und dritten Gruppe Dritteltöne, in der zweiten und vierten Vierteltöne. Wenig später sollen die Repetitionen mit »liquider«, das heißt maximaler Konnexität gespielt werden, zudem sind sie rhythmisch viel stärker differenziert. Die mit Flageoletts zu spielenden Streicher sollen wie Äolsharfen klingen. Die ersten Interventionen der Blech- und der Holzbläser bestehen in clusterähnlichen Gebilden, die dann von den vier Untergruppen der Streicher erweitert werden. Erst vereinzelt ist das Näseln der multiphonisch gespielten Oboen und Klarinetten zu hören, deren Spaltklänge bald den ganzen weiteren Verlauf dominieren werden. Speziell dafür hat Xenakis den Rat des Klarinettisten Guy Deplus in Anspruch genommen. Nach diesem ist die Tonerzeugung in vier Regionen einzuteilen, die für das Zusammenspiel von Mundstück und Lippen wichtig sind: von der gegenüber der traditionellen Stellung kaum hervortretenden Unterlippe bis zum ersten Kontakt der Schneidezähne mit dem Rohrblatt. Die Partitur gibt daher genaue Auskunft darüber, in welcher der vier Regionen der betreffende Klang erzeugt werden soll. Der ständig zunehmende Überdruck der gebündelten Tonrepetitionen von Soloklavier und Orchester mit tiefen Streichern entlädt sich schließlich in einer Folge von sieben gewaltigen Detonationen. || Nach dem Endes des ersten großen Formabschnitts, in welchem Klavier und Orchester gleichberechtigt agieren, setzt das auf sechs Systeme reduzierte Klavier zu seinem ersten Solo an, das mit Ausnahme weniger Zeilen dynamisch zu Piano tendiert. || Das Orchester antwortet darauf mit Gebilden, das seine potentielle Vielstimmigkeit in keiner Weise ausschöpft – so als wollte es den Klaviersatz insgeheim nur imitieren. Doch das Klavier ist auch sogleich wieder zur Stelle, wie es ihm gemäß ist: Es interveniert. Und dies wird fortan die Form der Zusammenarbeit von Klavier und Orchester bestimmen. Vor allem lässt Xenakis von hier an die übliche Anordnung der Streicher von den ersten Violinen bis zu den Kontrabässen immer wieder mit der bereits zu Anfang vorgenommenen Aufteilung in vier Untergruppen alternieren, die jeweils die gleiche Besetzung aufweisen. Die Streicher inaugurieren auch die Anwendung der Glissando-Notation, wobei es sich jedoch vorwiegend um kurze, auf- bzw. absteigende Glissandi im Bereich von kleineren Intervallen handelt. Aus dem Glissandoteil für neun Stimmen ist ein großes Solo des Klaviers konzipiert, das »liquid« und »legatissimo«, in Glissandi der Holz-und Blechbläser einmündet und mit vierstimmigen Glissandi des Klaviers endet. || Der Bassregion des Klaviers gewidmet sind die vom großen F treppenartig nach unten führenden Glissandi zu den am Steg produzierten Geräuschen der vier Untergruppen der Streicher, die dynamisch nach dem Schema crescendo – sfff – decrescendo und »very dry in rhythm« spielen. Den Abschluss der immer noch zur Tiefe tendierenden Passage bilden blitzartige Einwürfe der Blechbläser und der von ihnen produzierten Klangwolken. Auch die nächste Intervention des immer noch auf die Tiefe fixierten Klaviers wird von einer Kombination von äußerst expressiven Blechbläsern [alle mit Flatterzunge] und Steggeräuschen der tiefen Streicher »very dry« und dicht begleitet. Es folgt ein Zwischenspiel für Streicher in der normalen Sitzordnung [von den ersten Violinen bis zu den Kontrabässen] und erneut mit der dynamischen Charakteristik pp – sfff – pp sowie mit der klanglichen Modifikation, die während der gesamten Passage durch metallische Dämpfer am Steg bewirkt werden soll. Ähnlich zu akzentuieren sind die danach hinzutretenden Achtelgruppen der Blechbläser, während die weiterklingenden Streicher durch den Spielhinweis »sul ponticello« [am Steg] metallisch werden und nach und nach in einen Ponticello-Klang übergehen sollen. Im vierfachen Forte und durch einen Bläserakkord akzentuiert, bilden sich dichte und unregelmäßige »Klangwolken « aus Ponticello-Klängen. || Nach den klanglichen Extremismen der wichtigsten Instrumentalgruppen des Orchesters muss nun auch das Klavier darauf bedacht sein, für seine erneute Intervention mit einem frischen Klangcharakter aufzuwarten. Die neue Vortragsbezeichnung lautet daher »dry« [»trocken«] nicht mehr »hart« oder »liquid«. Zwar klingen dennoch auch Tonwiederholungen mit, aber in der Hauptsache sind es nicht mehr die Überlagerungen, die das Interesse erregen. Vielmehr sind es ziemlich primitive, weil abgedroschene Akkorde, sechs an der Zahl, die unversehens die Szene beherrschen, so »barbarisch« wie die von Bartóks Allegro barbaro . Die sechs Akkorde erweisen sich nach einer betont motorischen Einleitung als Versuch einer Kadenz, die zunächst aus der Permutation der Akkorde A, B und C [fünf Takte] sowie D, E und F [sechs Takte] besteht. Darauf folgt eine Generalpause von vier Sekunden. Danach jedoch beschränkt sich der Klavierpart auf die Angabe der Dynamik »fff« und den Hinweis »Dichte unregelmäßige Wolken aus den vorhergehenden sechs Akkorden A bis F«. Mitten in einem beispiellos komplexen und wohlorganisierten Notentext ist also eine freie Improvisation mit nicht mehr als sechs vorgegebenen und unveränderlichen Akkorden vorgesehen und für die Dauer von zehn Sekunden auszuführen, wie man es allenfalls von den improvisierten Soli des Jazz her kennt. Das Orchester freilich antwortet darauf nicht mit einer Kollektivimprovisation, sondern mit dem längsten »Riff« aus clusterartigen Tonrepetitionen, den Xenakis wohl je geschrieben hat: einer Schichtung von 43 individuellen Stimmen! || Die Antwort des Klaviers umfasst zwar zunächst fünf Systeme, deren zumeist simultane fünf Stimmen die rhythmische Motivik der Kadenz weiterführen, nach zwei Takten einer Intervention der Blechbläser aber fast schlagartig ausdünnen, so dass nach einer erneuten, eintaktigen Bläserintervention nur noch Oberstimme und Bass übrigbleiben. Diese rekapitulieren wiederum die Motive, die zur Kadenz führten. Nun intervenieren die hohen Streicher in langgezogenen Akkorden aus Halb-, Drittel- und Vierteltönen und stimulieren das Klavier dazu, sich auf mehr als eine Stimme zu besinnen. Mitten in diesen Prozess der Rückbesinnung sind nochmals die mikrotonal alterierten, langandauernden hohen Streicherklänge zu hören, auf die das Klavier gleichsam verfrüht reagiert. Denn wie es scheint, imitiert das Orchester oder vielmehr eine seiner Gruppen durch solche Verlangsamung unmissverständlich die motivischen Töne des Klaviers. Das wird in der folgenden sehr dichten Intervention der Blechbläser deutlich, auf die das Klavier mit der unbestreitbar kürzesten Intervention der gesamten Partitur reagiert, nämlich mit nur einem einzigen Takt. Dieser wird von den Streichern quasi verlängert, ehe das Klavier ihn weiter ausbaut und mit einem fallenden Tritonus abschließt. In ihn klingen wiederum die Bläser herein, die bis zum Ende der Passage mit dem tiefen Gis der Tuba das Fundament zum hohen dis''' der Streicher bilden, die den Abschnitt mit Tremoli beschließen. || Auch im weiteren Verlauf gehen die oft kammermusikalisch reduzierten und rhythmisch akzentuierten Impulse eher vom Orchester als vom Soloklavier aus, das sich vielmehr zu regenerieren sucht; trotzdem jedoch immer mehr auf seinen Solocharakter zu verzichten scheint und nur mehr als Begleitung des Orchesters fungiert. Rhythmisch orientiert sind sowohl die Impulse der Streicher wie anschließend die der Blechbläser. Beide zusammen bilden mit scharf akzentuierten Ostinatobildungen, die an jene des vorigen Abschnitts erinnern, die Grenze zum Solo des bereits wieder auf neun Systeme angewachsenen Klavierparts, der mit einem tremolierenden Fortissimo-Akkord des Orchesters endet. Was viele Anzeichen schon erwarten ließen, trifft dann auch ein: Nachdem das Soloklavier wieder die Anzahl von zehn Systemen erreicht hat, ist eine zweite, diesmal wahre Kadenz zu hören, eine Kadenz, die nicht mehr um einige ausgelaugte Akkorde kreist, sondern wieder das Thema Konnexität neu bearbeitet und diskutiert und das Klavier als ein Ensemble von Zusammenhängen, Verbindungen und Abhängigkeiten entwirft. || Die Schlusskonstellation steht im Zeichen rigoroser Vereinheitlichung, insbesondere hinsichtlich der Rhythmik. Gleichwohl verzichtet sie aber nicht darauf, neue Elemente ins Spiel zu bringen. Was Xenakis bislang an einzelnen Instrumentalgruppen exemplifizierte, die auskomponierte Verlangsamung und die nachfolgende Beschleunigung von Stimmverläufen, ist nun Thema eines abschließenden Orchesterzwischenspiels. Vereinheitlicht wird nicht allein die Lautstärke – generell »fff« für alle Instrumente –, sondern auch die rhythmische Notation, die Disposition der Dauernwerte der Bläser und Streicher, die dann mit unterschiedlichen Noten ausgefüllt werden, um die Ritardando-Accelerando-Wellen realisieren zu können. Diese Wellen setzen sich in anderer Form fort: als Trommelwirbel, weil nach dem Orchesterzwischenspiel nicht mehr das Orchester der Partner des Solisten ist, sondern ein Trio von Schlagzeugern mit Trommeln. Mit ihm zusammen bildet das Klavier ein Ensemble, dessen Wirbel es noch nach dem Ende seines Parts begleiten werden. Und es ist kein virtuelles Ensemble von Gnaden der zehn Liniensysteme, sondern ein reales, in dem es selber spielt. Auf ingeniöse Weise integrierte Xenakis das für seine Musik immer wieder paradigmatische, aber in Synaphai mit Ausnahme der letzten Takte eigentlich gar nicht vorgesehene und daher um so überraschendere Schlagzeug. Das vom Diskant bis zum Bass reichende Tremolo in Gegenbewegung soll bis zum Schluss pedalisiert werden und nahm damit sogar ein elftes Liniensystem in Anspruch.
Hans Ruldof Zeller im Programmheft musica viva (11. Februar 2005)