Nekuia - Musik über Krieg und Tod
In den frühen 1980er Jahren komponierte Iannis Xenakis mehrere Werke, die sich mit der Thematik von Krieg und Tod auseinandersetzen: Ais für Solobass, Soloschlagzeug und Orchester; Nekuia für Chor[gruppen] und Orchester; Pour la Paix für Sprechstimmen, Chor [der entweder live gesungen oder vorproduziert auf Tonband wiedergegebenwerden kann] und Computerklänge. Verwandtschaften zwischen diesen Stücken ergeben sich nicht nur aus stilistischen Besonderheiten [z. B. aus den für Xenakis charakteristischen Tonkonstruktionen mit »nicht-oktavierenden Skalen«, einer eigentümlichen Verbindung archaischer Anklänge mit modernen mathematischen Tonstrukturen] oder aus ähnlichen Klangmitteln [Orchester in Ais und Nekuia , Chor in Nekuia und Pour la Paix ], sondern auch aus vergleichbaren Konstellationen von Text und Musik [mit Texten aus unterschiedlichen Epochen].
Die Thematik dieser drei Stücke spiegelt sich nicht nur in den Titeln und im Klangbild, sondern konkretisiert sich auch in der Verbindung mit Texten: In Ais sind dies Texte aus der Ilias , in Nekuia Fragmente aus Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei sowie Fragmente einer Autorin, deren Texte ebenfalls in dem Hörspiel Pour la Paix Verwendung finden: Francoise Xenakis, die Ehefrau des Komponisten, hat zwei Bücher geschrieben, die die Grausamkeit des modernen Krieges thematisieren: Écoute und Et alors les morts pleureront . Beide Bücher bilden Textbasis des Hörspiels Pour la Paix . Fragmente aus Écoute werden auch in Nekuia verwendet. In ihrer Konfrontation mit Textsplittern von Jean Paul wird deutlich, dass Totenklage und Anklage des Krieges hier nicht auf eine konkrete historische Situation zielen, sondern auf Probleme, die seit Menschengedenken bis heute ungelöst geblieben sind.
Nekuia pour choeurs et orchestre symphonique entstand als Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks und seiner Abteilung Neue Musik, deren Leiter Wolfgang Becker das Werk gewidmet ist. Die Uraufführung fand in Köln statt. Zu Beginn eines Einführungstextes, der auch als Vorwort der Faksimile-Partitur publiziert worden ist, erklärt Xenakis den Titel und die Thematik seines Werkes: » Nekuia : Bestattungs- Zeremonie. – Auch Toten-Beschwörung, – ein magischer Ritus, in dem die Geister der Toten angerufen und nach der Zukunft befragt werden.« Diese Beschreibung zielt nicht nur auf das Erscheinungsbild der Musik, sondern auch auf ihre Vernetzung mit sprachlich fixierbaren Bedeutungen.
Die Texte, die Iannis Xenakis in seiner Musik verwendet, sprechen von Toten, und ihre Zusammenstellung lässt sich deuten als imaginärer Dialog zwischen Toten und Lebenden – in der Konfrontation aktualitätsbezogener Texte mit den Texten längst Verstorbener. Sprache und Musik sollen sich verbinden in der Artikulation einer inhaltlichen Aussage. Hierzu schreibt Xenakis: »Grundidee und Grundlage in dieser Musik ist die tiefe Krise der Ideologien, die sich im Äther und auf der Erdoberfläche begegnen, oft verbunden mit Klängen von Straßen-Demonstrationen, mit Explosionen auf Schlachtfeldern und mit Schreien, unter dem Licht eines bald finsteren, bald strahlend blauen Himmels. In Nekuia verbinden sich Wörter und Klänge, Hörereignisse diesseits und jenseits der Sprache.« Um dieses Spannungsfeld deutlicher herauszustellen, hat Xenakis in seinen Chorpartien einerseits textierte Stellen in Gesangslinien stark musikalisiert,andererseits aber auch textlose Stellen eingefügt, die auf verschiedene Weisen gehört werden können: Entweder als rein musikalische Strukturen, ähnlich der Orchestermusik, oder als nonverbal-expressive Exklamationen.
In seinem Einführungstext zu Nekuia hat Iannis Xenakis die Quellen der von ihm verwendeten Texte ausdrücklich benannt. Die starke Identifikation mit den in Musik gesetzten Texten, die der Komponist erkennen lässt, ist schon deswegen bemerkenswert, weil diese Texte – ganz im Gegensatz zu den Sprechtexten des Hörspiels – dem Hörer des Stückes weitgehend unverständlich bleiben: Sie werden nur fragmentarisch verwendet, sind auf verschiedene Stimmen aufgesplittert und treten überdies in ausgedehnten Kantilenen kaum noch in Erscheinung. Dennoch hielt der Komponist die Texte offenbar für so wichtig, dass er sie an verschiedenen Stellen der Partitur ausdrücklich gekennzeichnet hat – z. B. beim ersten Choreinsatz, der zunächst mit heftigen textlosen Exklamationen beginnt und sich dann fortsetzt mit Melodielinien, in denen zwei verschiedene Texte verarbeitet sind:
Le vent qui décoiffe les morts… Der Wind, der die Toten zerzaust…
Casques roulés au loin… Helme, die weit weg gerollt sind…
[ Écoute , S. 11]
Sternen… Schneegestöber…
[ Rede des toten Christus… ]
Der erste Textausschnitt ist dem ersten Text-Abschnitt des »roman-récit« Écoute entnommen:
Écoute Höre
le vent den Wind
Dans le haut des arbres. Hoch in den Bäumen.
Le vent qui décoiffe les morts, Den Wind, der die Toten zerzaust,
casques roulés au loin. Helme, die weit weggerollt sind.
Le vent qui caresse les visages Den Wind, der die Gesichter streichelt
décoiffe les cheveux. Und die Haare zerzaust.
Das zweite Text-Fragment ist ein zusammengesetzter Begriff aus dem wohl berühmtesten Textabschnitt in Jean Pauls Siebenkäs : Erstes Blumenstück – Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. Die Rede beginnt mit folgenden Worten:
Starres, stummes Nichts!
Kalte, ewige Notwendigkeit!
Wahnsinniger Zufall!
Kennt ihr das unter euch?
Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? –
Zufall,weißt du selber,
wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest
und eine Sonne um die andere auswehest,
und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? –
Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir –
O Vater! O Vater! Wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? –
Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist,
warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein? …
[Jean Paul: Siebenkäs . Frankfurt am Main und Leipzig 1970, S. 278]
Xenakis hat näher erläutert,was ihn an den beiden von ihm ausgewählten Texten interessierte [die aus durchaus unterschiedlichen historischen Kontexten stammen und deren Zusammenhang erst durch das von Xenakis gewählte übergeordnete Thema deutlich wird]: »Diese Texte sind bemerkenswert durch die Kraft ihrer Worte, die implizit dieselbe ewige Verwirrung vor Tod und Leben ausdrücken und die auf verschiedene Weisen gesungen werden können, auch als Echos von Gedanken,die zur Zeit ihrer Entstehung gedacht wurden.«
Neue Tonkonstruktionen. Auf kompositionstechnische Einzelheiten geht Xenakis in seinem Einführungstext nur mit wenigen Worten ein. Was er hier beschreibt, bezieht sich auf bestimmte Verfahren der Tonkonstruktionen, die seit den 1970er Jahren in vielen seiner Werke zu finden sind und die auch in Nekuia , schon von den ersten Taken an, eine wichtige Rolle spielen: Die Musik ist gebildet aus vielstufigen Skalen, deren Töne, in charakteristisch unterschiedlichen Abständen, weite Tonräume ausfüllen. Sie unterscheiden sich von traditionellen Tonleitern, deren Intervallabstände sich im Abstand einer Oktave wiederholen. Xenakis spricht deswegen von nicht-oktavierenden Tonleitern. Diese Tonleitern geben den Tongruppierungen ein charakteristisches Gepräge, eine den musikalischen Zusammenhang prägende »Farbe« – und dies nicht nur in den Melodielinien, wie man sie schon in den ersten Taken des Stückes hört, sondern auch, wie später zu hören ist, in dichten, im Tonraum weit ausgreifenden Akkorden, in denen die Töne der Tonleiter gleichsam vertikal zusammengeballt werden.
Komponierte Tonstrukturen: Das einleitende Orchester-Vorspiel. Das Stück beginnt mit einer kräftigen, prägnanten Klanggestalt der Streichinstrumente: Ein Ton – Ausweitung mit aufwärts und abwärts wandernden Tönen – Rückkehr zum Ausgangston. Das Klangbild wird beherrscht von zwei Melodielinien [von denen die untere sich an einigen Stellen auflöst in dichte »Tonklumpen«].
Notenbeispiel 1: Nekuia , Anfang [T. 1-8]: Dominierende Melodielinien
Notenbeispiel 2: Die ersten gesungenen und textierten Melodielinien: Partiturauszug mit überlagerten Wörtern [T. 41f.]
Notenbeispiel 3: Kontrastierendes Klangbild: Tiefere und raschere Tonbewegungen [T. 46-49 Sopran 1]
Notenbeispiel 4: 2. Textabschnitt [Jean Paul]: Melismatische Ausschmückung eines Wortes [Sternen- Schneegestöber]
Rudolf Frisius im Programmheft musica viva (06. Juni 2003)